Eine Burg und linke Lieder – lautloses Ende, Jürgen Eger im Gespräch

Leid und Tod nach dem Anschluß der DDR

Interview am 22. Juni 2013 auf Burg Waldeck

Der in Berlin geborene Liedermacher und Publizist Jürgen Eger bezeichnet sich selbst als Dichtersänger. Doch lassen wir ihn, auch was seine Lebensgeschichte betrifft, im Folgenden selbst zu Wort kommen: An ein Studium der Elektronik und Feinmechanik bis zum Diplom an der TU Dresden schloß sich Gesangsunterricht sowie Musiktheorie an der Musikschule Friedrichshain an. Später folgten dann noch ca. neun Jahre private Studien an der Berliner Musikhochschule und an der Humboldtuniversität in Musikgeschichte, Pädagogik, Soziologie, Theorie der darstellenden Künste, Philosophiegeschichte u.a.m. Seit 1979 arbeitete er freischaffend als Lehrer und (Amateur-)Musiker, 1981 machte ihn die Chansonsänger-“Pappe” zum anerkannten Berufs-Unterhaltungskünstler.

Sein Repertoire umfaßte zunächst Blues-Stücke, dann mehr und mehr Brecht/Eisler- und zunehmend eigene Lieder, die auf mehreren Schallplatten veröffentlicht wurden. 1981 und 1983 erhielt er Preise bei den Chansontagen in Frankfurt (Oder), und 1985 zeichnete man ihn zur Zeit seines Programms “Kopf hoch und der Zeit die Zähne zeigen” mit dem Kunstpreis der FDJ aus. Hinzu kam eine Tätigkeit als Berater in Liedermacher- und Singeklubwerkstätten. Eger war einer der beiden Co-Autoren und gehörte zu den Erstunterzeichnern der Resolution der Rockmusiker und Liedermacher vom 18. September 1989 und trat am 4. November 1989 bei der Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz auf, die er im Auftrag der Veranstalter mitorganisierte.Jürgen Eger sah und sieht sich als kritisch-loyaler DDR-Bürger und -künstler und vor allem auch als Kommunikator. Er initiierte beispielsweise im Frühjahr 1988 im Haus der jungen Talente (HdjT) in Berlin, dem wohl größten kommunalen Kulturhaus der DDR, das u.a. wegen der Feten während des Festivals des politischen Liedes legendär wurde, eine Veranstaltungsreihe “Demokratieübungen”, bei der er durch die jungen SED-Genossen und sonstigen Mitarbeiter außerordentlich initiativ unterstützt wurde und auf der Ende Juni 1989 z.B. Markus Wolf, der legendäre langjährige HVA-Chef, vor ca. 500 DDR-Bürgern auftrat, auch sogenannten Oppositionellen. Damals konnten und wollten noch alle mit allen reden, und das wurde weder amoralisiert noch kriminalisiert, was erst ab Anfang 1990 aufkam. Tolerant bis einträchtig hörten damals DDR-Befürworter, Umweltschützer, Ausreisewillige und MfS-Mitarbeiter einander zu und diskutierten miteinander, alle zumeist jünger und letztere sicher mehr als die Hälfte der Besucher dieser Veranstaltung stellend, aber nicht zur Kontrolle, jedenfalls nicht nur, sondern weil sie offensichtlich keinen Rat mehr wußten und vom großen Meister solchen erhofften. Daß es so etwas auch anderswo in der DDR gegeben hat, unterliegt seit 1990 der Totalzensur; demokratische Prozesse und Versammlungen darf es seit 1990 nur in Kirchen gegeben haben. Nicht in den Betrieben und Kulturhäusern, nicht in Sendern noch in Kasernen, wo sie tatsächlich und hauptsächlich stattfanden.

Nach dem Ende der DDR arbeitete Eger zunächst u.a. als freier Journalist, Autor von Fernsehfeatures und versuchte sich als Berater. Er erhielt seit 1990 mehrere Berufsverbote – allerdings ohne Urkunden – u.a. als TV Publizist 1994 sowie durch den Westler Reents 1998 Veröffentlichungsverbot im “Neuen Deutschland”. Seitdem war ihm jede Chance auf Öffentlichkeit verwehrt.

Beim 5. Linken Liedersommer vom 21. bis 23. Juni auf Burg Waldeck trug Jürgen Eger zum Abschluß des Workshops “Kunst als Waffe” zwei scharfzüngige Lieder über die Gewinnermentalität des Künstlers nach dem Anschluß der DDR sowie die verlockenden Freuden des Einzugs in den Bundestag vor. Im Rahmen des Liederabends erzählte er als ein “weißer Nigger” und “ehemaliger Mensch der ehemaligen DDR” aus der Zeit, “als wir angeschlossen wurden”. Mit “Ehrenwort” und “Berufsverbot” gab er sodann beeindruckende Kostproben seines Könnens. Nach der gemeinsamen Teilnahme am Workshop beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Sitzend vor der Freiluftbühne - Foto: © 2013 by Schattenblick
Jürgen Eger
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Jürgen, du hast dich als einen “ehemaligen Menschen aus der ehemaligen DDR” bezeichnet. Wie meinst du das und wie hängt das mit deiner persönlichen Lebensgeschichte zusammen?

Jürgen Eger: Zunächst ist das eigentlich nur eine Verbalisierung, die den einen oder anderen vielleicht ins Stolpern bringt, also eine Provokation, über die Formel “ehemalige DDR” nachzudenken. Die “ehemalige DDR” ist selbstverständlich völliger Blödsinn, aber zum Allgemeingut geworden. Wenn man nicht völlig verblödet ist, weiß man auch ohne “ehemalig”, daß die DDR ehemalig, also Vergangenheit sein soll. Dergleichen Doppelung wird als Tautologie bezeichnet. Und eine Tautologie gilt nicht als schlechtes Deutsch, sondern als falsches. Nun stellt sich natürlich die Frage, warum diese Sprachregelung im Jahr 1990 per Dienstanweisung in Umlauf gebracht worden ist und die Möchtegern-Elite einschließlich des angeblichen Qualitäts-Journalismus und der Gesetzgebungs-Diktatoren dieses Regimes das fleißig vor- und nachplappert. Das hat durchaus einen realen Sinn, weil nämlich derjenige, der “ehemalige DDR” sagt, zwar mit “ehemalig” nichts Neues über die DDR, wohl aber etwas über sich selbst aussagt, nämlich: Ich unterwerfe mich dem herrschenden Schwachsinn! Der ist mittlerweile so weit verbreitet und allgemein geworden, daß diese Formulierung nach meiner Erfahrung nur noch sehr schwer gedacht werden kann von den Hörern und Sagern. Es gibt den Effekt der Stereotypisierung, das heißt, wenn ich etwas selber tausendmal gesagt habe, kann ich es nicht mehr reflektieren. Wenn ich dem durchschnittlichen Westler, insbesondere einem Journalisten oder einem anderen Möchtegern-Eingeweihten sage, “ehemalige DDR” sei falsch, erwidert er erstaunt, das stimme aber doch. Sie sei doch ehemalig. Wenn ich dann frage, wann er oder sie das letzte Mal “ehemaliges Drittes Reich” oder “ehemalige Fußballweltmeisterschaft” gehört oder gesagt hat und warum die eine “ehemalig” sein muß, die anderen es aber nicht müssen und auch nicht sollen, bekomme ich regelmäßig keine Antwort. Die Leute reflektieren auch nicht, daß beispielsweise die Nachnutzungen “ehemalige Sowjetunion” oder “ehemaliges Jugoslawien” anders angewendet werden, weil sie sich nur auf die Zeit danach beziehen. Hingegen muß die DDR, schon als sie noch existiert hat, ehemalig gewesen sein. Die war schon immer ehemalig. Auf diese Art und Weise kann man nicht mehr zwischen den Zeiten differenzieren. Meinen die jetzt und meine ich jetzt die frühe, die mittlere oder die späte DDR oder die Zeit ab dem Protektorat oder ab dem Anschluß? Dadurch entsteht eine Sprach- und Denkverwirrung, die über die von mir verwendete Formulierung womöglich individuell, vielleicht sogar überindividuell, hör- und sichtbar werden kann. Übrigens habe ich das von malcom.z, der das neben einigem anderen auf einem Youtube Video darlegt [1], sozusagen auch für Leseschwächlinge. Das könnte glatt von mir sein. (lächelt)

Zum anderen spreche ich mit der Formulierung “ehemaliger Mensch” das völlige Fehlen der Menschenrechte an. Merke: Wer nur Untermenschenrechte hat, wird nicht als Mensch gesehen, sondern als Unter- bzw. Nichtmensch. Ich habe seit 2001 40 Grundrechts- und Menschenrechtsbeschwerden eingereicht, von denen keine einzige auch nur angenommen worden ist. Nicht in Karlsruhe (BRD), nicht in Strasbourg (EU), nicht in Genf (UN), nicht in Wien (UN), nicht in Warschau (KSZE). War auch selbst an allen diesen Orten und wurde jeweils nicht einmal vorgelassen. Ich bin zehn Jahre durch Europa gefahren, weil ich ein faires Asylverfahren gesucht habe. Keine Chance, und das betrifft ja nicht nur mich. Es haben sozusagen 400 Millionen europäische Bürger keine Menschenrechte, und fast keiner merkt es! Also wird das so selbstverständlich hingenommen, daß man sagt, du bist doch EU-Bürger, dann kannst du doch hinfahren. Ja, was nützt mir das, daß ich da hinfahren kann? Das nützt mir doch gar nichts! Ich muß doch leben können! Man nimmt ohne jeden Einwand hin, daß Artikel 14 der UN-Menschenrechtsdeklaration, wonach jeder, der verfolgt wird, das Recht hat, in einem anderen Land Asyl zu suchen und zu genießen, im Grunde bedeutungslos ist. Außer für Schwarze und russische Milliardäre. Ein französischer Millionär und ein US-Bürger haben wenigstens in Moskau, der Australier Assange hat von einem lateinamerikanischen Land Asyl bekommen. Wenigstens den letzten beiden wird menschenrechtswidrig innerhalb der EU der Schutz der Menschenrechte ebenfalls selbstverständlich verwehrt. Was aber immerhin berichtet werden darf.

Im Gespräch sitzend - Foto: © 2013 by Schattenblick
Als Künstler habe ich keine Chance …
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Versuchst du, als Künstler gegen diese Deutungshoheit anzugehen?

JE: Nein, als Künstler habe ich keine Chance. Du siehst mich hier in einer Ausnahmesituation. Ich konnte zehn Jahre lang überhaupt nicht mehr singen, weil sie mich trotz ihrer ganzen medizinischen HighTech ohne Diagnose durch die Welt laufen ließen. Die Diagnose der DDR wurde negiert, und somit hatte ich keine. Die DDR-Krankenakten wurden vernichtet – übrigens im Unterschied zu gewissen anderen Akten, die das Regime unbedingt behalten und ausstellen wollte und sogar per HighTech wieder zusammensetzte, um hernach diese Technologie und auch den antidemokratischen Geist dazu zu exportieren. Meine Akten der Poliklinik Prenzlauer Berg, der Poliklinischen Abteilung Lungenkrankheiten und vom Forschungsinstitut für Lungenkrankheiten und Tuberkulose in Berlin-Buch waren bereits 1992 bzw. 1994 einfach verschwunden. Gegen Recht und Gesetz und Menschenrechte! Millionen von Krankenakten sind einfach vernichtet worden, was nirgendwo seither auch nur öffentlich angedeutet wurde und dazu geführt hat, daß Millionen von Menschen leiden mußten und viele sogar daran zugrunde gegangen sind. Opfer des offensichtlich antichristlichen Kohl-Regimes und seiner Marionettenregierung und auch der Angela Merkel. Ein schönes Beispiel übrigens, daß und wie man mit scheinbar Gegenteiligem Gleiches bewirken kann: Einmal werden Akten mit großem Getöse gezogen und lautstark vermarktet, das andere Mal klammheimlich vernichtet – immer kommen jede Menge Tote bei raus. Wenn ich jetzt raten sollte, wie die Differenz in Millionenhöhe bei der Volkszählung zustande gekommen ist, würde ich sagen, DDR-Bürger, die ab 1990 verschwunden sind und in keiner Sterbestatistik auftauchen durften. Die GBM [2] hat mehr als 4.000 Suizide aus politischen Gründen gezählt. In seinem Buch “What Hitler wants” aus dem Jahr 1939 schreibt E. O. Lorimer – wo er die Zahl herhat, weiß ich nicht – daß sich im Zuge des Anschlusses Österreichs 6.000 Juden das Leben genommen hätten. Die Unpolitischen hat ab 1990 keiner gezählt. Als der “Baulöwe” Jürgen Schneider in Leipzig als sogenannter Investor aufgetreten ist und DDR-Handwerker schließlich auf Rechnungen in Höhe von 50 Millionen Euro sitzengelassen hat, interessierte keinen, wieviele sich da den Strick genommen haben oder sonstwie zugrunde gegangen sind. Ich kann beschreiben, wie das funktioniert, weil ich damals einige Fälle recherchiert habe. Es gab 1999 ff. die hungerstreikenden Handwerkerfrauen, die es ausnahmsweise in die Medien geschafft haben, aber letztendlich nur verarscht worden sind. Die Besatzer hatten – leider, leider – gerade kein Gesetz, nach dem es möglich gewesen wäre, sie für ihre geleistete Arbeit auszuzahlen – ein Menschenrecht! Und diese DDR-Bürger waren auch nirgends volksvertreten. Wie üblich seit 1990. Entsprechende Beschwerden wurden – selbstverständlich – weder in Karlsruhe, noch in Strasbourg auch nur angenommen. Die Medien berichteten, wenn überhaupt, dann falsch. Schneider gilt den Herrschaften übrigens bis heute als Herr und Erbauer Leipzigs …

Oder mein Kollege und Freund Kurt Demmler vor viereinhalb Jahren. Die brauchten zum 20. Jahrestag des Anschlusses eine Symbolfigur. Die brauchten einen lebenden Menschen, den sie negativ mit der DDR konnotieren konnten. Die Erste-Reihe-Funktionäre waren tot oder schon abgeurteilt oder zu alt, denn wenn einer 95 ist, macht das keinen Spaß mehr, gibt das der Meute nicht mehr den perversen Kick. Da ist ihnen die Denunziation dieses Mannes gerade recht gekommen, und der hat dann keine Chance gehabt. Also auch wieder Wörter, wie jenes des DDR-“Mauerschützen”: Wer damit an den Medienpranger gestellt wurde, hatte keine Aussicht auf Freispruch, der war schon verurteilt. Wenn hingegen ein Uniformierter dieses Staates ballernd durch die Stadt läuft und Leichen hinterläßt, dann heißt der nicht “Gossenschütze”, also wird er freigesprochen. Oder der “Todesstreifen” – angeblich der Streifen auf der Landkarte, wo gestorben wurde. Ist das nicht vielmehr die Bundesautobahn? So wird über die Wörter geherrscht. Und wenn einer dann in Blöd-Millionenauflage “DDR-Nationalpreisträger” in Kombination mit “Sexmonster” geheißen wird, läuft es analog. Übrigens gibt es auch hierzu ein malcom.z-Video auf Youtube.

Die genannte Zahl von über 4.000 Suiziden im Zuge der “friedlichen Wiedervereinigung” bezieht sich lediglich auf eine bestimmte Todesursache. Es gibt eine weitere Lektion auf YouTube, die sich mit “rätselhaften Herzinfarkten” befaßt. Da gab es im Fokus 2000 eine Grafik der mortalen Herzinfarkte in Ost, gemeint war die DDR, und West. Warum sind Magdeburger eigentlich Ost und Hofer West, obwohl Hof östlicher liegt? Auf der Grafik sieht man oben eine leicht fallende Kurve im Westen und unten auf sehr viel niedrigerem Niveau eine relativ waagerechte DDR-Kurve. Die Rate der tödlichen Herzinfarkte in der DDR betrug nur ein Drittel bis ein Viertel jener im Westen. Ende 1989 geht dann die DDR-Kurve steil nach oben und kreuzt Anfang 1991 die des Westens. Das sind 120.000 bis 150.000 DDR-Herzinfarkt-Tote mehr in einem Zeitraum von acht bis zehn Jahren. Angeblich wegen der 6.000 Srebrenica-Toten führte die NATO Krieg. Zudem gab es Veröffentlichungen im “Berliner Tagesspiegel” und in anderen Medien über die Mortalitätsverläufe aller Krebsarten. Auch die lagen in der DDR immer weit unter denen im Westen und wurden ab 1990 schnell an das miese Westniveau angeglichen. Rechnet man Suizide, Herzinfarkte, Krebstote, Depressionen, erhöhte Säuglingssterblichkeit, Mord und Totschlag und Autoraserei auf Westniveau und Alkoholtote zusammen, sind das Millionen, die seither über den Jordan geschickt wurden. Übrigens darf auch diese geringere Mortalität nicht gut und schon gar nicht besser gewesen sein an der DDR. Entsprechende Überschriften sind allerhöchst tabuisiert. Diäten-Zocker würden mit Verstoß aus dem Paradies bestraft, wenn sie es wagten …

Wie das im einzelnen funktioniert, kann ich aus eigener Erfahrung erklären, da ich seit 21 Jahren ununterbrochen, auch aktuell mehrfach strafverfolgt werde, ohne je eine Straftat begangen zu haben, und also weiß, wie das läuft. Wenn in Rußland oder China ein Künstler angeblich oder tatsächlich fertiggemacht wird, geht das hier durch alle Medien. Wird ein Mensch wie Kurt Demmler, der der bedeutendste Rock- und Pop-Texter der deutschen Sprache war – nicht an Umsätzen orientiert, sondern am Werk, am Oeuvre, an der Mission bemessen – in den Suizid getrieben, gibt es in diesem Staat keine Trauer oder Kritik, da wird gejubelt. Schon gar nicht geht es um einen deutschen Dichter, der in einem deutschen Knast umkommt. Sondern um eine Bestie, die selbst schuld ist. Gestern wurden hier am Lagerfeuer ein paar seiner Lieder gesungen. Kurt Demmler war auch am 4. November 1989 mit auf der Bühne, den habe ich damals eingeladen. Er hat zum Beispiel “Du hast den Farbfilm vergessen” für Nina Hagen und große Teile des Repertoires von Renft und Veronika Fischer geschrieben. An seinem Werk gemessen war er der bedeutendste Rock- und Pop-Texter deutscher Sprache, weil das in der DDR sehr stark zentralisiert war. Wenn du als DDR-Rocker oder Popper produziert werden wolltest, mußtest du deutsch singen. Das war im Westen nicht so, da sangen für einige Zeit fast nur Lindenberg und etwas später die Neue-Deutsche-Welle-Bands in ihrer Muttersprache und also der des Publikums. In der DDR hingegen mußtest du einerseits deutsch singen, wobei es andererseits wegen des Lektorats hochkonzentriert in den Händen weniger Autoren lag. Aus diesen Gründen hat Demmler ein riesiges Werk hinterlassen, er war wohl der Ideenreichste und Schnellste und gern ein bißchen früher als andere. Er wurde am 3. Februar 2009 tot in seiner Zelle aufgefunden, in die man ihn wegen angeblicher Kinderfickerei mindestens so rechtswidrig gesteckt hatte, wie Kachelmann mehrere Monate einsaß. Übrigens auch eine Methode, die man 1935 gegen den Geltungsjuden angewendet hat, den sogenannten Lebemann, der
angeblich unmoralisch gelebt und die deutschen Hausfrauen verführt hat. Und der auch damals schon unter Adolf und Joseph wie später Demmler selbst schuld war. Auch das alte katholische Motiv, wonach der Jude Christenkinder schlachtet und frißt, kam zeitgemäß zum Einsatz, aber vor allem griff man bei Adolf in dieser Zeit auf die Bezichtigung der Amoralität des Frauenverführers zurück. Über das Selbst-schuld-sein des Juden hat Friedrich Holländer übrigens, es war wohl schon 1929, ein hübsches Chanson geschrieben auf die berühmte Carmen-Melodie. Sehr aktuell.

Kleine Anmerkung noch zum Lektorat, das, vor allem im nachhinein, öffentlich ausschließlich als Ausdruck von Diktatur und Zensur dargestellt wird. Zensur gab es prinzipiell in der DDR genausowenig wie in der BRD und tatsächlich weniger. Allerdings ging es künstlerisch bis in die Texte in der DDR vergleichsweise demokratisch zu. Wesentlich mehr Künstler äußerten sich mit ihren selbstgeschriebenen Gedanken auf den Bühnen des Landes. Und zwar in der Sprache, in der die Menschen einander verstanden. Das wollte das Publikum auch: Eigene Lieder der Künstler, der Amateure wie der Profis. Heute versuchen die jungen Menschen gemäß Big-Brother-Diktat irgend jemanden besonders gut nachzumachen, fast immer auf Englisch, und das wird auch vom Publikum anerkannt: Wenn du besonders effektvoll so tun kannst, als seist du für drei Minuten oder gar länger jemand anderer, dann bist du wer! Das gilt heute als Individualität. Schon das Englisch-Diktat (das selbstverständlich nicht Diktat heißen und nicht als solches gedacht werden darf!) deckte schon in der alten BRD 90 bis 95 Prozent aller gesendeten Rock- und Pop-Texte ab. Was das Volk nicht versteht, muß Herrschaft auch nicht zensieren, auch nicht in der Person der Plattenbosse, wo u.a. das Lektorat in der BRD lag, aber nicht so genannt wurde.

Die politische Vorgabe, daß Rocklieder auch etwas zum Leben und Fühlen der DDR-Bürger aussagen sollten, und zwar so, daß das Volk das auch verstehe, brachte die Entscheider über die Sendbarkeit der Titel in Zwänge und Nöte, die sie mit englischen Titeln bei identischen Aussagen gar nicht gehabt hätten. Oder andersherum: Mit dem, was Kunert und Pannach im Westen so auf die Bühnen und Platten gebracht haben, wäre ihnen das DDR-Publikum in den 1970ern eingeschlafen. Angeeckt wären sie damit schon gar nicht. Herausgekommen sind in der DDR und für ihre Menschen – nicht zuletzt auch durch das Diktat Lektorat – hochpoetische, humanistisch orientierte, auch herrlich jesusfreie Rock- und Poplieder, die ihresgleichen suchen. Aber auch Jesus war in der DDR präsent und kam durchs Lektorat, z.B. mit den Liedern von Gerhard Schöne. Der Abschaffung des Lektorats, aber auch der weitestgehende Ausschluß der DDR-Künstler aus der Medien- und Bühnenöffentlichkeit, zumal der bezahlten, folgte ein schlimmer künstlerischer Verfall, geradezu eine Amateurisierung des gesamten Kulturbetriebs. Die meisten Rocker meinten, die für die DDR-Künstler nun weit geringeren Text-Tantiemen nicht mehr teilen zu sollen. Und so hörte es sich dann auch an. Das Lektorat und vor allem Walter Ulbricht mit dem zu hundert Prozent öffentlich falsch interpretierten Yeah-yeah-yeah-Satz sind “schuld” an der insgesamt hohen Qualität der DDR-Rock- und Pop-Texte. Und daran, daß man die Puhdys heute noch kennt. Denn wenn man denen wie den anderen ab den 1960ern
nicht diktiert hätte, deutsch zu singen, hätten die heute vielleicht den
künstlerischen und Erinnerungs-Stellenwert der Lords.

Ausholende Geste mit einer Hand - Foto: © 2013 by Schattenblick
So viele wurden über den Jordan geschickt …
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Du hast vorhin angesprochen, daß du nicht mehr als Künstler auftreten konntest. Wie ist es dazu gekommen?

JE: Zunächst wurde auch ich – wie fast alle anderen – von den Bühnen des Landes ausgeschlossen. Exemplarisch steht hier das Berliner Haus der jungen Talente, das in den letzten DDR-Jahren meine Heimatbasis war, sozusagen, und vom Westpolitkommissar Faustmann übernommen wurde, der dann eben ganz frei und “wiedervereinigt” bestimmte, wer alles nicht mehr auftreten durfte: Hier lernte ich zum ersten Mal so richtig meinen Nigger-Status. Die Jugendklub- und Kulturhausstrukturen wurden zu vielleicht 90 Prozent von den Besatzern zerschlagen und wie die FKK-Strände abgeschafft. In der DDR wurden die meisten Jugendklubs von der FDJ verwaltet und die meisten Kulturhäuser von den Betrieben finanziert und betrieben, und wenn FDJ und Betriebe plattgemacht werden oder Kulturhäuser nicht mehr zum betrieblichen Aufgabenbereich gehören dürfen, wie von Frau Breuel angeordnet wurde, dann gibt es auch keine Bühne mehr für DDR-Liedermacher, Rocker und andere. Und also keine Berufsausübung mehr.

Zudem habe ich seit 1992 keine Diagnose gehabt, obgleich sich mein Krankheitszustand ab ca. 2004 so sehr verschlechtert hat, daß ich vor anderthalb Jahren nicht mal mehr sprechen konnte. Diskussionen wie diese hier hätte ich damals gar nicht mehr führen können. Daß ich vorhin zwei oder drei Lieder singen konnte, war nicht zuletzt dank der Gesangstechnik möglich, die ich gelernt habe. Das baut sich auch erst wieder auf. Ich habe zehn Jahre lang nicht gesungen und trainiere erst seit einem halben Jahr wieder. Außerdem war ich heute gut in Form. Es handelt sich um chronische Bronchitis, ursprünglich eigentlich Bronchiektasen, also Aushöhlungen in der Lunge, die ich mir frühkindlich durch Keuchhusten zugezogen habe. Das ist eine Infektionskrankheit, gegen die es damals in den 1950ern in der DDR keine Antibiotika gab. Auch eine Folge dieses Scheiß-Kriegs! Ich wurde gut betreut und so weit wie möglich ausgeheilt, aber es sammeln sich nun immer wieder Bakterien in diesen Aushöhlungen, und wenn es zu viele werden, dann ist eben mal Schluß. Dank des guten Gesundheitssystems in der DDR hatte ich seit 1987 auch eine Diagnose, worauf die Krankheit mit den zur Verfügung stehenden Mitteln eingedämmt wurde. Praktisch meine gesamte Berufszeit als Sänger hatte ich diese Krankheit, konnte aber fast immer damit singen. Als ich es Anfang der 1990er auf ärztlichen Rat hin unternahm, die nun neuen, “goldenen” West-Möglichkeiten der Therapie für dieses Krankheitsbild in Anspruch nehmen zu wollen, wurde dafür eine aktuelle Diagnose benötigt – DDR-Diagnosen taugten für die neuen Herren wie alles andere aus Fast-Sibirien nicht. Nun gut, fünf Jahre nach der letzten Diagnose mal zu schauen, wie der Stand der Dinge sei, konnte nicht falsch sein. Nur: Wunder, Wunder! Die Bronchiektasen waren nun, 1992 und ambulant hightech-diagnostiziert, unauffindbar. Ein zweiter, stationärer Versuch, etwa 1994, brachte mit anderer HighTech dasselbe Ergebnis. Was nützt den Menschen der viel höhere Ausstattungsgrad mit Gerätschaften, wenn das Personal damit nicht umgehen kann? Oder selektiv nicht will? Was nützt die teure Technik, wenn die alte, nicht so teure bessere Ergebnisse brachte?

Denn es ist ja – nach Brandt – nur das zusammengewachsen, was aus der Sicht seiner Auftraggeber zusammengehörte: Der Adel mit DDR-Acker und Wald, die Kapitaleigner-West mit dem DDR-Volkseigentum, die Westnazis- und -kriminellen mit den Lügenpfaffen und anderen Korrupten. Die DDR-Bürger sind ansonsten überflüssig und lästig. Man pickt sich die Rosinen aus dem Mädchengewächshaus und schickt sie als Frischfleisch in die Alpentourismus-Industrie, man läßt die DDR-Sport-Talente nun Siege für die BRD erkämpfen: van Almsick, Maske, Ballack usw. Da ist dann auch jedes Doping-Gerede tabu bei gleichzeitiger DDR-Doping-Hysterie. Und man befolgt Niccolò Machiavellis Rat an seinen Fürsten, die eroberte Bevölkerung zumindest auch von einheimischen Herrschaftsmarionetten unterdrücken zu lassen. Das Merkel wurde so für die Politik, was Maske für das Boxen war: Beide säuberten auf der Grundlage ihrer DDR-Herkunft und humanistischen Bildung die Genres vom Zuhälterimage. Es ging nicht um eine Änderung der Geschäftsprinzipien, es soll nur sauber aussehen. Warum haben beide wohl sämtliche Konkurrenz aus dem Ring gehauen?! Der eine in den 1990ern, die andere in den 2000ern. Der Rest der DDRler darf gern verrecken. Denn überflüssige Menschen werden nicht als gesellschaftlicher Reichtum angesehen und erwirtschaften also keinen, sondern sind pure Kosten. Und jedes vorzeitig beendete DDR-Bürger-Leben bedeutet eingesparte Arbeitslosen- und Rentenzahlungen, Medizinkosten usw., Mehrwert erwirtschaften überflüssige Menschen nicht. Millionenfach wurden und werden seit 1990 Intelligenz, Bildung, Berufsabschlüsse der DDR-Bürger in die Abfalltonne getreten. Was an der Aberkennung von Qualifikationen schon mit dem sogenannten Einigungsvertragswerk, den Regularien ihrer Diskriminierung, Ausgrenzung und Enteignung, zu sehen ist. Und keinen Diäterich stört es. So wurden den DDR-Krankenschwestern Fachschulabschluß und Dienstjahre, Ökonomen sämtliche Abschlüsse usw. aberkannt, Juristen durften in der Regel weder Staatsanwälte sein noch Richter.

Zurück zur Bronchitis. Nach der zweiten Verneinung der Bronchiektasen lehnte die Krankenkasse weitere diagnostische Maßnahmen ab, und die Ärzte konnten mich wegen der fehlenden Diagnose nicht richtig behandeln und mir die möglichen oder naheliegenden Medikamente nicht verschreiben. Erst vor anderthalb Jahren, also ca. 20 Jahre nach der Verneinung der Bronchiektasie, bekam ich aufgrund meiner sehr schlechten Verfassung wieder eine Diagnose – et voilá, die DDR-Bronchiektasen sind wieder da – und mehrere Behandlungen mit Antibiotika. Jetzt geht es einigermaßen, ob sich das hält, ist eine andere Frage, zumal ich mittlerweile auf die 60 zugehe.

SB: Wir haben im Workshop darüber diskutiert, ob linke Kunst überhaupt jemanden erreichen kann. Wie denkst du darüber?

JE: Ich bin in dieser Hinsicht anderer Auffassung als Dr. Seltsam. Ich denke, daß Kunst schon für das eigene Überleben wichtig ist. Wenn wir wissen, in der DDR wurde das aufklärend bekanntgemacht, daß bis in die Vernichtungslager die Menschen Kunst gemacht haben, um am Leben zu bleiben, um zusammenzubleiben, dann finden wir unter diesen schrecklichsten Verhältnissen bestätigt, daß Kunst eine uralte Vergesellschaftungstechnik des Zoon politikon und unverzichtbar ist, ganz egal, in welcher miesen Situation man sich befindet. Wenn ich dazu nicht mehr in der Lage bin, bin ich eigentlich schon tot. Hinzu kommt aus meiner Sicht, daß der linke Künstler eher eine Chance der Vermittlung hat als der linke Nichtkünstler, wenn man von den Wahrscheinlichkeiten ausgeht. In politischen Diskussionen bekommt im übrigen meist derjenige Künstler eher recht, der als Künstler überzeugender wirkt. Deswegen dürfen ja DDR-Künstler, bis auf einige ideologisch handverlesene, nicht populär sein. Das erleben wir jetzt ständig massenmedial: Wenn irgendwelche Leute mit linkem Anspruch nicht richtig singen können, dann unterliegen sie in der Regel, was den Zuspruch seitens des Publikums betrifft. Kommt hingegen ein Profi, der etwas auf die Bühne stellen kann, aber nicht das denkt, was unsereins denkt, daß er denken sollte, hat er Erfolg. Leuten, von denen man neudeutsch sagt, sie hätten ein Standing, gibt man politisch eher recht als jenen, die nicht richtig singen und sich überhaupt schlecht artikulieren können. Das ist meine Erfahrung und meine Überzeugung.

Das ist dann auch mein Hauptkritikpunkt in Richtung linker Künstler,
denen ich sage, stimm doch erst einmal deine Gitarre und lerne singen! Das gilt natürlich nicht immer, denn wenn man beispielsweise wie Ernst Schwarz in Demonstrationszusammenhängen spielt und Parodien vorträgt, übrigens auf einer ordentlich gestimmten Gitarre, kommt es meiner Meinung nach auf anderen Qualitäten an, die den meisten “großen” Künstlern völlig abgehen. In der Regel, denke ich, ist das schon so, daß Brecht immer ein Argument gegen das Hingeschluderte bleibt. Er hat stets die Höhe der Kunst erreicht, die es brauchte, um mit politischen Argumenten und in Diskussionen zu überzeugen. Allerdings befand er sich nicht im Kern der Bewegung, sondern verhielt sich, nicht inhaltlich, aber räumlich, eher distanziert zu ihr. Es bleibt auf jeden Fall ein schwieriges Thema, das man immer wieder diskutieren und in dem man andere Sichtweisen entwickeln und zu neuen individuellen Positionen gelangen kann und wohl auch muß, die für den einen so zutreffen und für den anderen anders.

SB: Was sollte den Künstler deines Erachtens als Menschen ausmachen? Muß ein emanzipatorischer Künstler eine bestimmte Persönlichkeit haben?

JE: Da tendiere ich dann doch wie Dr. Seltsam eher dazu, das auseinanderzuhalten, wenigstens tendenziell, und zu sagen, daß Arschlöcher tolle Lieder machen können und überzeugende, sich aufopfernde Menschen mitunter kein Lied auf die Reihe kriegen. Und daß dieses tolle Lied in gesellschaftlichen Zusammenhängen eher eine Wirkung entfaltet, die dem starken Charakter versagt bleibt. Die Menschen, besonders wenn sie keine Künstler sind, verstehen oft nicht, wieso der Mensch, den sie als Künstler verehren, so eine Drecksau oder so unhöflich, abweisend, unsensibel, machomäßig oder was auch immer ist. Idealerweise fallen hochwertige Kunst und schöner Charakter zusammen, doch in der Realität sieht es häufig anders aus. Ich entspreche natürlich dem Ideal, völlig klar! (lacht)

SB: Jürgen, ich bedanke mich für dieses aufschlußreiche Gespräch.

Mit Gitarre auf der Bühne sitzend - Foto: © 2013 by Schattenblick
Kostprobe eines beeindruckenden Könnens
Foto: © 2013 by Schattenblick

Fußnoten:

[1] Youtube channel “Lex Aarons”

[2] Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde

http://www.gbmev.de/

Bisherige Beiträge zum Linken Liedersommer auf Burg Waldeck im Schattenblick unter INFOPOOL ? MUSIK ? REPORT:

BERICHT/013: Eine Burg und linke Lieder – wie alles kam (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0013.html

BERICHT/014: Eine Burg und linke Lieder – Soziales nach Noten (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0014.html

BERICHT/015: Eine Burg und linke Lieder – Die Kunst zu treffen (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0015.html

INTERVIEW/019: Eine Burg und linke Lieder – Nieder und Lagen und Blicke voran, Kai Degenhardt im Gespräch (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0019.html

INTERVIEW/020: Eine Burg und linke Lieder – Zeitenwenden, Brückenköpfe, Dr. Seltsam und Detlev K. im Gespräch (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0020.html

INTERVIEW/021: Eine Burg und linke Lieder – Nicht weichen, sondern Analyse, Klaus Hartmann im Gespräch (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0021.html

INTERVIEW/022: Eine Burg und linke Lieder – Liederparadies im Schatten, Gina und Frauke Pietsch im Gespräch (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0022.html

INTERVIEW/023: Eine Burg und linke Lieder – Genius verkannt, Uli Holzhausen und Matthias Leßmeister im Gespräch (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0023.html

INTERVIEW/024: Eine Burg und linke Lieder – … leiser geworden, Rainer Johanterwage im Gespräch (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0024.html

 

22. August 2013