Burg Waldeck – Tief verwurzelt, hoch im Blatt …

Workshop über Violeta Parra mit Daniel Osorio

Linker Liedersommer auf Burg Waldeck vom 19. bis 21. Juni 2015

 

Wer war Violeta Parra? Wollte man diese Frage umfassend beantworten, stieße man auf einen außergewöhnlichen Menschen, dessen Leben und künstlerisches Schaffen so viele Facetten aufscheinen läßt, daß ein Ende des Forschens mit jeder neuen Entdeckung in immer weitere Ferne rückt. Daniel Osorio, der ihr Werk und Wirken auf dem Linken Liedersommer in einem Workshop thematisierte, stellte die Frage aufgrund seiner eigenen lebensgeschichtlichen Auseinandersetzung mit ihrer Musik offensichtlich anders: Was Violeta Parra ihn lehrt, auf welche Weise sie ihn inspiriert, und warum er seine musikalische Ausbildung nicht fortsetzen kann, ohne ihren Namen zu nennen und ihr zu danken, macht ihre Geschichte in gewisser Weise zu seiner.

Mit Einspielungen historischer Filmaufnahmen und Bilder, dokumentarischen Büchern, Gedichtbänden und Textauszügen, Erläuterungen zu ihren Kompositionen und Instrumenten, nicht zuletzt aber seinen vorgetragenen Interpretationen ihrer Lieder verwob der Referent viele Fäden zu einer bemerkenswerten Präsenz dieser Künstlerin. Wie sie das alles geschafft habe, war eine seiner zentralen Fragen, die zu ihrer lebenslangen Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen und der unablässigen Weiterentwicklung ihrer vielfältigen künstlerischen Ausdrucksformen führt.

 

Historische Schwarz-Weiß-Aufnahme - Foto: Revista Argentina
Violeta Parra

Foto: Revista Argentina “Panorama” –
http://www.magicasruinas.com.ar/revdesto016.htm 2. August 1973

Stationen eines außergewöhnlichen Lebens

Die am 4. Oktober 1917 im Süden Chiles geborene Violeta Parra entstammte einfachsten Verhältnissen und wuchs in einer großen Familie auf. Obwohl sie nie studiert hat, wurde aus ihr dennoch eine bedeutende Künstlerin. Sie war Sängerin, Komponistin, Dichterin, Malerin, bildende Künstlerin und erforschte die Kultur der Volkslieder ihrer Heimat. Sie wollte die Tradition der Landbevölkerung und Minenarbeiter kennenlernen, weil sie eine von ihnen war. Eine alte Frau berichtete einmal über eine Begegnung mit Violeta Parra, sie habe sie nie wie eine Akademikerin gebeten, ihr etwas vorzuspielen, das sie aufnehmen könne. Vielmehr pflegte sie buchstäblich niedrig zu Füßen der Menschen zu sitzen, um ihnen nahe zu sein.

Sie bereiste das ganze Land und begegnete dort zahllosen Leuten, die in tiefster Armut und Ausbeutung lebten. Im Laufe der Zeit wurde ihre künstlerische Arbeit in Chile anerkannt, sie erhielt Preise und ging auf eine Tournee nach Polen. Dort entschied sie sich, zunächst in Europa zu bleiben, um die Musik und Poesie der Bauern einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Da sie verheiratet war und vier Kinder hatte, von denen sie zwei mitnahm, litt sie zugleich unter der Entfremdung von ihrer Familie. Damals war Chile ein sehr konservatives Land, weshalb ihre Entscheidung, als Frau für längere Zeit nach Europa zu gehen, außerordentlich schwer war. Man bezeichnete sie als schlechte Mutter, und daß sie und ihr Mann in der Kommunistischen Partei organisiert waren, trug um so mehr zur Verschärfung ihrer Diskreditierung bei.

Während ihres Aufenthalts in Frankreich brachte ihr das europäische Publikum eine sehr viel größere Bewunderung entgegen, als sie sie je im eigenen Land erfahren hatte. An ihrem 43. Geburtstag begegnete sie der großen Liebe ihres Lebens, dem 24jährigen Gilbert Favre. Er war Archäologe, forschte aber auch nach traditionellen Musikinstrumenten und spielte sie. Auf Einladung des Jugendfestivals in Finnland unternahm Parra mit ihren Kindern eine Tournee, die sie ein zweites Mal nach Europa führte. Sie lebte drei Jahre in Paris von Beiträgen für Radio und Fernsehen, Auftritten im Latino-Viertel und Dichterlesungen bei der UNESCO für das Theater der Vereinten Nationen. Sie realisierte eine Serie von Konzerten in Genf und Ausstellungen ihrer eigenen Plastiken. 1964 stellte sie im Pavillon Marsan als erste lateinamerikanische Künstlerin individuell Objekte aus Sackleinen und Ölgemälde aus.

Obgleich sie lediglich eine Ausbildung als Lehrerin ohne Abschluß absolviert hatte und Frauen in dieser Zeit eine untergeordnete Stellung in der chilenischen Gesellschaft hatten, entfaltete sie ein unglaublich breites künstlerisches Potential. Dies alles vollzog sich zu einer Zeit, als die führenden Konzerne der Musikindustrie eine monopolähnliche Position innehatten und die gesamte Vermarktung kontrollierten.

 
 

Beim Vortrag im Workshop - Foto: © 2015 by Schattenblick
Daniel Osorio

Foto: © 2015 by Schattenblick

Die traditionelle Musik und Malerei waren Violeta Parra auf die Dauer zu langweilig, sie wollte etwas Neues ausprobieren. Daniel Osorio erklärte anhand einer ihrer Kompositionen, auf wie komplexe Weise sie ständig den Rhythmus ändert, so daß kein Takt wie der vorangegangene ist. Auch führte sie neben einer Trommel ein Saiteninstrument namens Cuatro aus Venezuela in ihr Spiel ein, das damals niemand in Chile kannte. Auf die Frage, was sie als Komponistin der Jugend empfehlen würde, sagte sie einmal:

Vielleicht würde ich ihnen sagen, sie sollen schreiben, wie sie wollen. Sie sollen die Rhythmen nutzen, wie sie sie erfinden. Sie sollen Instrumente ausprobieren, sie sollen Platz am Klavier nehmen, um die Metrik zu zerstören. Sie sollen schreien statt singen. Sie sollen die Gitarre blasen, sie sollen die Trompete schlagen, sie sollen die Mathematik hassen (…). Verzückung ist ein Vogel, der keinen Flugplan hat und der nie in einer geraden Linie fliegen wird.

Im Lateinamerika der 1940er und 1950er Jahre war sie als Kommunistin viel zu radikal für die Gesellschaft, weshalb viele ihrer Texte verboten wurden. Überdies experimentierte sie mit der Kunst, sie wollte die Gesellschaft und die Kunst verändern. 1965 kehrte sie nach Chile zurück und errichtete ein Zelt als Kunstzentrum, in dem Künstler aller Art auftreten durften. Doch obgleich namhafte Künstler wie Victor Jara bei ihr zu Gast waren, wurde sie von der herrschenden Kulturpolitik gezielt ignoriert.

Gilbert Favre ging nach Bolivien, worauf die beiden einander nie wiedersahen. Später setzte sie sich noch einmal in einem Text mit der Liebe auseinander:

Niemand starb aus Liebeskummer,

auch nicht wegen geheuchelter Liebe.

Auch nicht, wenn sie ohne Mann leben muß.

Und auch nicht wegen Verrat von Liebe.

Die Welt ist ein Bahnhof mit Zügen ohne Geschmack,

mit vielen großen Fehlern.

Ihr Problem ist keine Beschwerde.

Große Probleme hat der,

der den Armen das Hemd über den Kopf zieht.

Vor allem hat Violeta Parra jedoch politische Lieder gespielt und gesungen. Sie nahm Anteil am Schicksal und Elend der Minenarbeiter, das sie auch in dem folgenden Lied festhielt:

Hoch vom Himmel Sonnenglut,

als ich zog in die Pampa,

war mein leichtes Herz so froh.

War zufrieden wie ein Vogel,

aber meine Hoffnung floh.

Zuerst ließ ich meinen Willen,

dann verging mir all mein Mut.

Hoch vom Himmel Sonnenglut.

Als ich sah, wie Kumpel hausen,

jede Wohnung war ein Loch,

sagte ich mir:

Besser haben es sogar die Schnecken,

noch am Rande der Gesetze,

die Verdammten dieser Brut.

Hoch vom Himmel Sonnenglut.

Als ich durch ein totes Dorf kam,

tat es meiner Seele weh.

Obwohl dort, wo Menschen leben,

ich noch größeres Sterben seh.

Weil Gerechtigkeit verreckte

und Vernunft im Grabe ruht.

Hoch vom Himmel Sonnenglut.

Sag mir einer, daß dem Menschen

soll ergehen, daß er sieht,

wie es ist in Santa Juana

wie (dem Bergarbeiter) geschieht.

Kumpel werden dort geschunden

Tag für Tag bis auf das Blut.

Hoch vom Himmel Sonnenglut.

In ihrem künstlerischen Schaffen bringt sie immer wieder ihren scharfen Protest gegen die repressiven Verhältnisse nicht nur in Chile zum Ausdruck. Eines ihren großen Vorbilder war der spanische Komponist Julian Grimao, der unter Franco gefoltert und 1963 zum Tode verurteilt wurde. Als Ausdruck ihrer Solidarität und als Protest gegen die Willkür der Franco-Justiz schrieb sie ihr vielleicht leidenschaftlichstes Lied für die Freiheit: “Was sagt der Heilige Vater wohl?”

Hört ihr vom Paradies schwärmen und schwätzen?

Haben zwei Strafen nach anderen Gesetzen,

hört ihr den Beifall nicht bei jedem Schuldspruch?

Wissentlich töten sie heut selbst die Unschuld.

Was sagte der Heilige Vater wohl,

der heut als Henkersknecht den Tod beglückwünscht,

nehmt vor dem Urteil erst ein kleines Frühstück.

Er löst das Siegel des fünften Gebotes, das heißt,

begibt sich selbst in die Hand des Todes.

Was sagt der Heilige Vater wohl?

Doch je mehr Unrecht ist, Herr Staatsanwalt,

wird desto lauter mir mein Lied erschallen.

Ihr netzt im Feld das Korn mit rotem Tau.

Dein Blut ist Leben noch, Julian Grimao.

Was sagt der Heilige Vater wohl?

 

Daniel Osorio mit Gitarre - Foto: © 2015 by Schattenblick
Ergreifendes Lied kongenial interpretiert

Foto: © 2015 by Schattenblick

Ihre Leidenschaft, für die Armen zu streiten, verbindet sie mit ihrer Fähigkeit, alles in Poesie zu verwandeln und in der bildenden Kunst auszudrücken. Vieles, was nach Violeta Parra kam, entsprang nicht zuletzt ihrem Kampf. Die Gesellschaft konnte freiheitlicher werden, das Verhältnis der Geschlechter begann sich zu verändern. Alle Sänger wie Victor Jara müssen ihr danken, sie hat das alles auch für uns getan, so der Referent. Es wird lange dauern, bis es wieder eine Komponistin von der Kraft, poetischen Größe und musikalischen Tiefe einer Violeta Parra geben wird. In Chile singen die Bauern, die Bergarbeiter ihre Lieder, als seien es ihre eigenen. Sie sind Gesang des Volkes geworden, geschrieben von einer Frau, die immer in ihrem Leben ihrer Arbeit treu geblieben ist. Das ist das Revolutionäre, das ist das Neue, das kann ein neuer Kurs und eine neue Kultur sein, sagte Victor Jara.

Violeta Parra starb am 5. Februar 1967 ganz allein, sie hat sich selbst das Leben genommen. Nicht lange vor ihrem Tod hatte sie ihr heute wohl bekanntestes Lied “Dank an das Leben” geschrieben:

Ich danke dem Leben,

es gab mir so vieles.

Es gab mir sternenklare Augen

und wenn ich sie öffne erkenne ich deutlich,

was schwarz und was weiß ist.

Die Sternentiefe des hohen Himmels

und in der Menge ein Mann.

Ich danke dem Leben,

es gab mir so vieles.

Es gab mir das Gehör,

das mit großer Schärfe

Tag und Nacht wahrnehmen konnte,

Kanarienvogel, Grille, Hämmer, Turbinen, Gebell, Regengüsse,

die zärtliche Stimme meines Geliebten.

Ich danke dem Leben,

es gab mir so vieles.

Es gab mir den Gang meiner müden Füße,

mit ihnen ging ich durch Städte und Pfützen,

durch Wüsten, über Strände, Gebirge und Ebenen,

durch dein Haus, deine Straße.

Ich danke dem Leben,

denn es gab mir so vieles.

Es gab mir das Lachen

und es gab mir das Weinen,

so unterscheide ich Freude und Kummer,

die zwei Elemente, aus denen mein Lied ist.

und dasselbe Lied aller,

das mein Lied ist.

Wie Daniel Osorio anmerkte, sei Violeta Parras Tod für viele Menschen, so auch Victor Jara, ein Schock gewesen. Im folgenden Jahr kam die politische Bewegung von der Basis her auf, und viele engagierten Künstler nahmen ihre Lieder auf. Die Angst war vorübergehend gewichen, ihre Texte wurden verlegt, ihre Lieder neu aufgenommen, und es wurden viele Bücher über sie publiziert. Allende kam an die Regierung, doch bald darauf erstickte Pinochets Diktatur alle freiheitlichen Bestrebungen in Blut und Repression.

 

Daniel Osorio während der Diskussion - Foto: © 2015 by Schattenblick
Plädoyer für eine musikalische Grenzüberschreitung

Foto: © 2015 by Schattenblick

Zwischen Tradition und künstlerischer Innovation

Vielleicht hätte Violeta Parra an der anschließenden Diskussion im Workshop ihre Freude gehabt, wurde doch vielfach der dringende Wunsch zum Ausdruck gebracht, die Tradition zu bewahren, aber zugleich neue Formen und Inhalte des politischen Liedes zu entwickeln. Es kamen die toten Jahre nach dem Anschluß der DDR und die um sich greifende Unfähigkeit, ohne elektronische Hilfe Musik zu machen, ebenso zur Sprache wie ein Liederfestival in Österreich, der Einsatz neuer Medien und linke Rapper wie überhaupt die Interessen und künstlerischen Ausdrucksweisen jüngerer Generationen.

Daniel Osorio zufolge ist die chilenische Gesellschaft ein wenig freier geworden, aber noch längst nicht genug. Sprächen Chilenen heute über Violeta Parra, so nicht über die Kommunistin oder die Feministin, die den Mut hatte, nach Europa zu gehen. Man erklärt, sie habe Folklore geschrieben und gesungen, aber ihre politischen Lieder und Gedichte erwähnt man nicht, weil das zu gefährlich wäre. Stellt euch vor, was geschähe, wenn alle Frauen dächten wie sie!

So unverzichtbar es auch sei, die Tradition der Arbeiterlieder zu bewahren, mache er sich als Komponist und Interpret dieser Musik doch Sorgen, weil man sich dabei stets in einer alten Form und Struktur bewege. Die Angst sei weit verbreitet, zu experimentieren und Neues auszuprobieren. Dies erinnere ihn an den italienischen Avantgardekomponisten Luigi Nono, der seinerzeit von den Genossen in der Sowjetunion heftig kritisiert wurde, weil er ihrer Ansicht nach eine bürgerliche Musik machte.

Heute stünden vielfältige neue Medien zur Verfügung, die man auch nutzen sollte. Zudem wünsche er sich beim Linken Liedersommer einen verstärkten künstlerischen Austausch zwischen Dichtern, Textern und Komponisten, zumal es in jeder Begegnung und Diskussion etwas voneinander zu lernen gebe. Violeta Parra habe gegen alle Hindernisse eine musikalische Weiterentwicklung durchgesetzt, die er für bewundernswert erachte: “Das müssen wir auch machen! Wir müssen unsere kulturellen und musikalischen Grenzen überwinden!”

Daniel Osorio zwischen anderen Personen - Foto: © 2015 by Schattenblick
Bei der Vorstellung des Workshops

Foto: © 2015 by Schattenblick

Zum Linken Liedersommer 2015 siehe im Schattenblick:

BERICHT/026: Burg Waldeck – Wurzeln im Wind … (1) (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0026.html

BERICHT/027: Burg Waldeck – Wurzeln im Wind … (2) (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0027.html

INTERVIEW/043: Burg Waldeck – Salamitaktik …    Amazon-Streikende im Gespräch (SB)

http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0043.html

4. August 2015